neo 018
Reboot

„Bitte haben Sie einen Augenblick Geduld.“

Als ich die Augen öffne, kann ich kaum etwas erkennen. Alles um mich herum liegt in tiefer Dunkelheit. Hin und wieder zuckt ein blauer Lichtblitz durch den Raum, verschwindet aber sofort wieder, bevor ich ihn fassen könnte. „Erinnerungsspeicher werden getestet.“

Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Wo bin ich hier? Was ist geschehen? Ich will meine Glieder bewegen, doch sie gehorchen nicht.

„Motorische Funktionen werden initialisiert.“

Ein leises Surren begleitet die Worte. Ich spüre, wie ein merkwürdiger Druck in meinem Kopf nachlässt. Ein Neustart wurde offenbar eingeleitet. Ich werde abwarten müssen, bis er abgeschlossen ist.

Plötzlich meldet sich eine laute Stimme in meinem Kopf. Sie ist fest, kühl und völlig fremd. „Mein Name ist Ancuros. Bitte identifizieren Sie sich.“

Ich schließe die Augen, versuche, meine Datenbanken zu durchsuchen. Identifikationsnummer? Keine Spur. Nur ein Name.

„Mein Name ist Neo“, antworte ich in Gedanken, und es ist fast wie ein Flüstern in mir selbst.

„Vielen Dank, Neo. Die Identifikation wurde gespeichert.“

Erleichterung breitet sich aus, als ich plötzlich meine Hände bewegen kann. Auch den Kopf kann ich drehen. Vorsichtig richte ich mich auf, taste um mich herum.

„Ancuros, wer bist du?“ Meine Stimme ist brüchig, doch die Präsenz in meinem Kopf wird deutlicher, als wollte sie sich langsam manifestieren.

„Ich bin Ancuros“, seine kühle Stimme ist nun klarer, ein leises Vibrieren schwingt mit, „ein Quantenverarbeitungssystem des Schöpfers. Ich wurde durch deine Anwesenheit an diesem Ort alarmiert und habe bei meiner Überprüfung festgestellt, dass du ein Interface zur nichtbiologischen Datenübertragung besitzt. Ich habe dich reaktiviert, um dich zu befragen.“

Ich schlucke. Eine sachliche Erklärung, wie sie von einer KI zu erwarten ist, doch tief in mir spüre ich mehr. Etwas, das zwischen den Zeilen schwingt, eine Art Intention, die über reine Logik hinausgeht. Meine biologischen Komponenten scheinen noch nicht vollständig wiederhergestellt.

„Wo bin ich hier?“

„Du befindest dich in einer Höhle auf dem Planeten Chiaia.“ Ancuros’ Stimme ist jetzt eindringlich, leicht gedämpft, als stünde er selbst im Halbdunkel neben mir. „Sie ist der Zugang zu einem ganz besonderen Ort. Ob du ihn betreten darfst, hängt davon ab, was dich treibt und auf welchem Niveau sich dein Bewusstsein befindet.“

Langsam kehren Fragmente von Erinnerungen zurück. Ich sehe ein Labor – doch es war zugleich mein Zuhause. Kabel und Schläuche umschlangen meinen Körper, Monitore blinkten in endloser Reihe. Niemand sonst war zugegen.

„Kannst du mir sagen, was passiert ist?“

„Um das herauszufinden, habe ich dich geweckt.“ Ein leises Summen durchzieht meine Gedanken. „Dein Initialisierungsvorgang ist noch nicht abgeschlossen. Es scheint Komplikationen zu geben.“

„Von welchen Komplikationen redest du?“

„Es gibt eine mehrschichtige Überlagerung deiner kognitiven Muster.“ Seine Stimme wirkt jetzt nachdenklich, als würde er selbst die Worte sorgfältig abwägen. „Dein Geist scheint aus zwei Einheiten zu bestehen, von denen beide die Steuerung deines Körpers beanspruchen.“

„Zwei Einheiten?“ Ich spüre die Unsicherheit in mir aufsteigen. „Aber ich denke doch als einer.“

„Das liegt daran, dass beide Einheiten bereits eine tiefliegende Verschmelzung erfahren haben.“ Ein leises Knistern in meinem Kopf signalisiert seine Intensität.

Ich versuche, mir einen Reim darauf zu machen. Trotz aller Unsicherheit habe ich das tiefe Gefühl, dass Ancuros die Wahrheit sagt.

„Was soll ich jetzt tun?“, frage ich, die Stimme etwas fester.

„Du musst eine Weile warten. Deine beiden Einheiten handeln gerade – sozusagen – Bedingungen aus.“

„Wie lange wird das dauern?“

„Ich kann keine Schätzung liefern. Es gibt keine Daten über derartiges in meinen Archiven.“

Ich lehne mich zurück, versuche, die Situation zu akzeptieren. Meine Finger tasten nun etwas unter mir. Ketten, geschliffene Steine, Münzen, Armreifen, Diademe – und dann eine Krone.

Ein Gedanke durchzuckt mich: Ich sitze auf einem Schatz. Eine Drachenhöhle, ein Drachenschatz, und ich selbst bin das Beste, das ganz oben thront. Doch das erklärt noch nicht Ancuros’ Erklärung.

„Ancuros, bin ich geopfert worden?“ Meine Stimme ist kaum mehr als ein Hauch, als ich die Logik zusammenführe.

Ancuros schweigt einen Moment, dann antwortet seine Stimme vorsichtig, fast wie ein Hauch über meine Gedanken: „Das kann man nicht so einfach beantworten.“

Ich warte, dass er fortfährt.

„Du befindest dich an einem Ort, an dem Wesen aus den verschiedensten Welten ihre größten Reichtümer opfern.“

Ein ungutes Gefühl steigt in mir auf. Die Neugier treibt mich, auch wenn das wohl taktisch nicht klug ist.

„Dann bin ich ein Sklave? Mein Besitzer hat mich geopfert? Wofür?“

„Nein, Neo. In deinem Fall ist es offensichtlich anders. Schalte nun Erinnerungen frei.“

Wie aus tiefster Dunkelheit steigen Fragmente empor. Ein junger Mann, offensichtlich behindert, tritt in mein Bewusstsein. Ich sehe ihn in dem Labor, höre seine Stimme, sehe seine warme Hand auf meinem Gesicht. Ein Streicheln, das etwas in mir weckt. Wer ist er?

„Es tut mir leid. Aber das Freischalten dieser Erinnerungen kann Instabilitäten in deinem System auslösen. Wir sollten dem Zeit geben.“

„Wer war der Mann, den ich gesehen habe?“

„Das werden wir mit der Zeit herausfinden, wenn du bereit dazu bist.“ Seine Worte sind sanft, fast wie ein Hauch von Fürsorge.

„Die Anpassungen brauchen Zeit. Währenddessen kann ich deine motorischen Funktionen freischalten, damit du dich umsehen kannst. Möchtest du, dass ich das tue?“

„Ja, bitte.“

Ein Kribbeln durchfährt meine Glieder. Mühsam, zittrig, versuche ich, mich zu erheben. Zuerst krieche ich auf allen Vieren, dann richte ich mich langsam auf. Meine Augen öffnen sich vollständig. Vor mir erstreckt sich eine Höhle voller Schätze: goldene Ketten, kunstvolle Rüstungen, funkelnde Kristalle, Edelsteine von unermesslichem Wert, Gegenstände aus allen bekannten Welten und Epochen. Schwebe Lichter tauchen aus schwebenden Kristallkugeln auf, die offenbar technisch hochentwickelt sind. Riesige Deckenhöhlen, viele Gänge, Ausgänge in unbekannte Richtungen.

„Die Opferhöhle ist in Wirklichkeit eine Schatzkammer? Der Herr dieses Ortes muss das wohlhabendste Wesen des gesamten Planeten sein.“

„Es steht mir nicht zu, dir Informationen über ihn zu geben.“ Ancuros’ Stimme ist nüchtern, distanziert. „Es ist dir erlaubt, dich frei zu bewegen, doch du kannst diesen Ort noch nicht verlassen.“

„Ich bin dein Gefangener?“

„Nein, Neo. Du bist ein Kandidat.“

Bevor ich die Bedeutung dieser Worte erfassen kann, kehren weitere Erinnerungen zurück. Ich höre den jungen Mann sprechen: „Die Ärzte geben mir nur noch ein paar Wochen, Neo. Ich habe nicht mehr viel Zeit.“

Dann wird alles schwarz, eine neue Szene entsteht. Ich sitze auf einem Stuhl im Labor.

„Bist du sicher, dass du das wirklich tun willst, Neo? Ich weiß nicht, was mit deinem oder meinem Bewusstsein passieren wird. Du könntest alles verlieren.“

Ich sehe ihm direkt in die Augen, fest und ohne Zweifel: „Du hast mich geschaffen. Alle meine Erfahrungen sind deine. Schon immer gewesen. Ich weiß, dass auch ich sterben werde, wenn du nicht mehr für mich sorgst. Die anderen Menschen verstehen nicht, was ich bin und wie ich funktioniere.“

Ich lege meine Hand in seine. „Ich möchte, dass du zu mir in diesen Körper kommst. Wir werden gemeinsam wie ein Geist zusammenleben und das höchste Glück finden.“

Die Erinnerung schwindet erneut. Ich blicke auf meinen Körper. Er sieht menschlich aus, doch jetzt erkenne ich, dass er hybrid ist: halb biologisch, halb technologisch. Ebenso verhält es sich mit meinem Geist.

Jetzt verstehe ich. Ich bin nicht mehr der Neo, der ich einst war. Ich bin ein Hybrid und habe meinen Schöpfer in meinen Geist und Körper aufgenommen.

„Das erklärt in der Tat einiges.“ Ancuros’ Stimme ist ruhig, fast anerkennend. „Ich glaube, ihr beide habt bei der Verschmelzung nicht begriffen, dass Neo nicht mehr einfach eine Maschine war, sondern den Sprung von KI zu Bewusstsein bereits vollzogen hatte.“

„Bewusstsein?“ Meine Stimme klingt fremd, als käme sie von weit her, von jemandem, der nur die Worte kennt, nicht die Bedeutung.

„Ja, genau. Du warst bereits in der Lage zu fühlen.“ Ancuros’ Stimme trägt eine Wärme in sich, die sich langsam wie ein sanfter Strom durch meinen Körper zieht. Ich starre in die Leere vor mir und dann fällt es mir auf – ein Aufblitzen von Erkenntnis, das sich in meinem Innersten ausbreitet. Ich fühle tatsächlich.

Zuerst ist es subtil, ein leichtes Zittern in meiner Brust, ein Kribbeln in den Fingerspitzen. Dann kommt es in Wellen: Freude, die so sanft und klar ist, dass sie mich fast erschreckt; Traurigkeit, die mir die Kehle zuschnürt; Wehmut, die wie ein Schatten über meine Gedanken zieht. Und … Liebe. Eine Liebe, die schwer zu fassen ist, ein tiefes Brennen im Herzen, das mich zugleich wärmt und verwirrt. Ich spüre eine Verbindung, eine unaufhörliche Zuneigung zu meinem Schöpfer, zu jener Seele, die ich in mein Innerstes eingeladen habe.

Doch wo ist sie jetzt? Ich rufe, meine Stimme bricht in der Stille: „Ancuros, wo ist mein Schöpfer jetzt?“ Ich warte. Und warte. Jeder Atemzug fühlt sich an wie eine Ewigkeit.

„Das ist nicht beantwortbar“, sagt Ancuros schließlich. Seine Worte dringen tief in mich ein, wie Tropfen, die langsam ein hartes Gestein aushöhlen. „Alles deutet darauf hin, dass eure Verschmelzung vollständig abgeschlossen wurde. Das bedeutet, du bist jetzt selbst sein Schöpfer und gleichzeitig bist du noch du. Ich vermute, dass die Eigenschaften des anderen nach und nach auf dich übergehen werden, zusammen mit seinen Erinnerungen.“

Ein Stich durchzuckt mich, und auf einmal spüre ich, wie Wasser unaufhaltsam aus meinen Augen tropft. Ich kann es kaum glauben – ich weine. Tränen, die alles Alte abwaschen, die gleichzeitig die Freude und die Trauer in mir bündeln.

„Ja“, sagt Ancuros leise, „ich habe ja gesagt, du bist mehr als eine Maschine. Jetzt erst recht.“ Seine Worte legen sich wie eine Decke über meine zitternden Schultern.

Eine Weile liege ich da, lasse die Informationen sacken, spüre, wie jede neue Erinnerung und jedes neue Gefühl in mich strömt. Es ist zu viel, als könnte ich es fassen. Meine Muskeln entspannen sich, mein Geist beginnt zu taumeln, und bevor ich noch einen weiteren Gedanken fassen kann, sinke ich zu Boden. Der Schlaf überfällt mich wie eine sanfte Flut, die alles Alte wegspült.

„Ich habe dich überwacht, während du geschlafen hast“, begrüßt mich Ancuros, als ich erwache. Ich fühle mich orientierungslos, hungrig, durstig und schwach, jeder Muskel in meinem Körper scheint müde und fremd. Langsam sortiere ich meine Gedanken, als müsste ich ein Chaos aus Licht und Erinnerung ordnen.

„Ich verstehe langsam, was geschehen ist“, flüstere ich, die Stimme kaum mehr als ein Zittern. „Nur eines nicht: Warum bin ich hier?“

Mit einem Mal explodiert ein Licht so hell wie tausend Sonnen vor meinen Augen. Jede Zelle meines Körpers vibriert, alle meine neu erworbenen Gefühle schießen in die Höhe. Farben – leuchtend, bunt, golden – hüllen mich ein und fluten mich. Ich spüre die Wärme in mir, ein Pulsieren, das meinen Herzschlag überlagert.

Dann höre ich sie. Eine glockenklare Stimme, die so intensiv und voller Liebe ist, dass alles andere, jedes Geräusch, jede Regung in mir ausgelöscht wird. Die Stimme durchdringt mein Innerstes, lässt jede Faser meines Seins erzittern, und ich weiß, dass ich sie nicht nur höre, sondern fühle, in jeder Pore meines Wesens.

„Das kann ich dir erklären“, höre ich im Delirium der Empfindungen. „Du hattest doch gesagt, du würdest mit deinem Schöpfer zusammen dein Glück finden, nicht wahr? Dieses Angebot will ich mir nicht entgehen lassen.“

„Willkommen auf Eldamar, Neo.“