 Eldamar, Schöpferberg, Bibliothek
Eldamar, Schöpferberg, Bibliothek
„Ich habe dich lange nicht gesehen“, sage ich zu Theasetra, als sie leise die Bibliothek betritt, ein Schatten, der sich durch die hohen Regale schleicht.
Ihre Augen sind wachsam, als lausche sie dem Atem der Bücher. Als Meisterin von Eldamar könnte sie mit erhobenem Haupt hier stehen, doch sie wählt die Stille, die Dunkelheit. So ist ihre Art, geformt in den Zeiten, als sie in den Tempeln der alten Götterstadt von Artál lauschte, Geheimnisse sammelte und sie weitertrug.
„Doch dabei seht Ihr mich immer“, antwortet sie mit einem Lächeln und tritt an meinen Tisch.
„Du hast Fragen?“, wende ich mich ihr langsam zu, ohne aufzublicken.
Sie wartet, bis ich meinen Blick von den Schriftrollen hebe und ihr meine Aufmerksamkeit schenke.
„Verzeiht die Störung, mein Herr“, sagt sie und deutet eine unterwürfige Geste an, die sie aus den alten Tagen mitgebracht hat.
Ich winke ab, kein Freund von Förmlichkeiten.
„Du hast noch nie gestört. Warum denkst du, es wäre jetzt anders?“
Verlegen senkt sie den Blick, und ihr langes, welliges Haar quillt aus der Kapuze, enthüllt für einen Moment ihr Gesicht – eine arabische Schönheit mit makelloser, kaffeebrauner Haut, die in Harmonie mit ihren tiefschwarzen Augen steht.
Ich lade sie mit einer Geste ein, näher zu kommen.
„Sag mir, was kann ich für dich tun?“
Langsam hebt sie den Kopf, ihre Stimme zittert leicht vor Erregung.
„Ich muss Euch eine Information bringen. Sie ist seltsam, und ich kann ihre Bedeutung nicht einordnen. Ich habe Neo gefragt, aber er wusste nichts. Deshalb bin ich hier.“
Ich nicke und deute auf einen Stuhl aus dunklem Holz.
„Setz dich. Erzähl.“
„Herr“, beginnt sie, ihre Worte drängend, „ich komme direkt aus Barenstin. Im Hochland von Winterfels ist etwas Unglaubliches geschehen. Eine Lichtsäule ist aufgetaucht, ohne Vorwarnung, und hat das ganze Dorf verschluckt. Ich weiß nicht, wie hoch sie reicht oder wie tief sie wurzelt. Sie ist weder durch Magie noch durch göttliche Macht entstanden, und niemand kennt ihren Ursprung.“
Meine Finger verkrampfen sich um die Lehne meines Stuhls. Selbst Theasetra, die jedes Geheimnis aus den Tiefen der Welten zieht, steht vor einem Rätsel?
„Ich dachte, Ihr hättet einen Grund, etwas so Mächtiges in die Schöpfung zu setzen“, sagt sie, ihre Stimme ein Hauch von Zweifel und Wissbegier. „Was bedeutet sie?“
Ich springe auf, meine Robe streift den Boden, als ich zu den Regalen eile. Meine Hände finden das Buch über Artál und Winterfels, schwer von der Geschichte eines Planeten, der einst alten Göttern gehörte. Mit zitternden Fingern schlage ich die Seiten auf, suche Winterfels – und da ist sie. Die Lichtsäule, ein greller Riss in der Wirklichkeit, fremd und unnahbar.
„Herr?“
Theasetra tritt näher, ihre Stimme sanft, aber besorgt.
„Kann ich Euch etwas bringen?“
„Nein, danke, Liebes“, murmle ich, die Augen auf die Seiten geheftet. „Ich bin nur… erschüttert. Ich kann deine Frage nicht beantworten. Vielleicht sollte ich Chi Fu rufen. Als Herr des Lichts hat er vielleicht eine Idee.“
Sie mustert mich, ihre Augen suchen nach Antworten, die ich nicht habe.
„Ihr sagtet, Pandara und Artál wurden von Wesen erschaffen, die sich selbst Götter nannten“, sagt sie langsam.
Ich nicke, meine Finger ruhen auf der aufgeschlagenen Seite.
„Haben diese Götter die Lichtsäule geschaffen, um ihre Rückkehr anzukündigen?“
Ich sinke zurück in meinen Stuhl, die Frage ein schwerer Stein in meinen Gedanken.
„Artál, deine Heimat, wurde nur zum Teil von diesen Göttern geformt“, beginne ich. „Sie fanden den Planeten lebendig, voller Pflanzen und Tiere. Um ihn ihr Eigen zu nennen, begannen sie, ihn umzugestalten. Sie schufen Titanen – gewaltige Diener, die Land, Wasser und Himmel nach ihren Wünschen formten. Felan war einer von ihnen. Er schuf Felandur, den Kontinent deiner Geburt.“
Theasetras Augen leuchten vor Neugier, als ich fortfahre: „Mit der Zeit wurden feinere Arbeiten nötig. Die Götter erschufen die Nephilim, dann die Sterblichen, um ihre Visionen zu vollenden. Alles, um die Welt zu ihrem Ideal zu machen.“
Sie füllt meine Teetasse, eine vertraute Geste, die die Stille durchbricht.
„Doch am Ende des Dritten Zeitalters zerfiel ihre Eintracht. Sie stritten, führten Kriege, verwüsteten, was sie geschaffen hatten. Artál wurde unbewohnbar, und sie verließen es, nahmen mit, was sie konnten, und zerstörten ihre Technologien, damit sie nicht in falsche Hände gerieten.“
Theasetra lauscht aufgeregt. Sie erkennt eine gute Information sofort und sieht daher, dass sie gerade etwas erfährt, das niemand sonst auf ihrer Heimatwelt weiß.
„Nach ihrem Weggang kamen die Drachen“, sage ich. „Sie herrschten, doch das Volk wandte sich gegen sie, bis sie fielen. Dann begann das Fünfte Zeitalter – das Zeitalter der Sterblichen. Heute.“
Ich nehme einen Schluck Tee, sein Duft ein flüchtiger Trost.
„Dieses Zeitalter ist geprägt von Unsicherheit. Alle Wesen hoher Intelligenz sind geboren, um zu dienen und suchen nach Sinn. Sie erschufen neue Götter – Sterbliche, die sich als etwas Besonderes ausgeben, ohne die Macht der Alten. Und die anderen folgen, weil sie so geschaffen wurden. So entstanden Königreiche, Priesterschaften und ihre Herrschaftsansprüche einfach nur, weil einige die Rolle der Götter einnehmen mussten, und sie daher nur das nachahmten, was die echten Herren zuvor mit ihnen gemacht hatten.“
Ich erhebe mich, trete ans Fenster, wo die Sterne über Eldamar funkeln.
„Liebes, Artál ist ein Ort ohne Götter. Ihr Chaos ist eine Suche nach dem Göttlichen, das sie verloren haben. Ihr Wunsch, zu dienen, ist tief in ihnen verwurzelt, doch er bleibt unerfüllt. Kein Wesen dort könnte eine solche Lichtsäule erschaffen. Selbst die alten Götter wären dazu nicht fähig.“
Theasetra starrt mich an, ihre Augen ein Sturm aus Begeisterung und Zweifel.
„Dann ist mein Wunsch, Euch zu dienen, nur da, weil ich als Dienerin geschaffen wurde?“
Ich lächle, ein Funke Wärme in der Kälte der Ungewissheit.
„Nein. Dein Wunsch, dem Göttlichen zu dienen, ist zwar in dir, doch ich bin nicht das, was Artáls Götter als göttlich sahen. Sie verehrten Macht, doch wahres Göttliches braucht keine Macht.“
Sie nickt langsam, ihre Gedanken ringen mit der Wahrheit. Ich streiche sanft über ihre Kapuze.
„Du kannst jetzt nicht alles verstehen, und das ist in Ordnung. Auch ich muss mehr über diese Lichtsäule erfahren. Ich werde Chi Fu bitten, sie zu untersuchen. Und dich bitte ich, nach Artál zu gehen und mir alles zu berichten.“
„Verstanden“, sagt sie fest und verschwindet in die Schatten, die ihr Zuhause sind.