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In einer abgelegenen Bucht, verborgen vor den Blicken der Welt, steht ein schlichtes, wettergegerbtes Haus. Der Wind streicht über das Meer, Möwen rufen, Wellen schlagen an die Felsen – und dort, allein unter dem weiten Himmel, lebt Chronar, der Meister der Zeit.

Wer ihn sieht, sieht nie dasselbe Gesicht. Manchmal erscheint er als alter Mann mit silbernem Haar, gebeugt wie ein Baum im Wind. Dann wieder als Junge mit wachen Augen, barfüßig am Strand. Stunden vergehen – und er ist wieder ein anderer. Chronar hat sich von der linearen Zeit gelöst. Jahre vergehen, in denen er sich kein bisschen verändert. Dann gibt es Momente, in denen er innerhalb einer Stunde durch Jahrzehnte seiner selbst wechselt. Nicht aus Laune – sondern aus Notwendigkeit.

Er besitzt eine eigene Zeit. Sie gehorcht nicht den Uhren der Menschen, nicht den Rhythmen der Welt. Sie ist ein innerer Strom, tief und unergründlich, der nur ihm zugänglich ist. Chronar lebt in den Faltungen des Seins – jenseits von „Jetzt“, „Dann“ und „Bald“.

Unter den großen Meistern gilt er als der Weiseste. Nicht, weil er viele Worte macht – sondern weil seine Worte selten sind. Und wenn er spricht, scheint die Zeit selbst stillzustehen. Man hört ihn nicht nur mit den Ohren, sondern mit dem Herzen. Er kennt den Rhythmus der Zeitalter, das langsame Atmen der Welt. Er weiß, wie alles miteinander verbunden ist – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – wie ein unendlicher Teppich aus Licht und Entscheidung.

Chronar kann die Zeit anhalten, sie rückwärts fließen lassen oder sich durch sie bewegen wie durch einen Garten der Möglichkeiten. Er war Zeuge von Anfängen und Enden, hat Reiche aufsteigen und vergehen sehen, ohne sich einzumischen. Doch manches Mal, ganz selten, greift er ein. Dann erscheinen Menschen an ungewöhnlichen Orten, Veränderungen geschehen „zufällig“, oder jemand hört eine Stimme zur rechten Zeit. Chronar hat ein tiefes Gespür dafür, wann sein Eingreifen notwendig ist – und wann Stille mehr heilt als Tat.

Sein engster Freund ist Giacomo, der Meister der Räume. Die beiden verbindet mehr als Zeit und Raum – sie teilen eine uralte Vertrautheit, ein kosmisches Spiel zwischen Weg und Moment. Wenn Giacomo Portale öffnet, ist Chronar oft derjenige, der bestimmt, wann. Gemeinsam hüten sie Wege, die nicht betreten werden dürfen – noch nicht, oder nie.

Chronar hat Teile der Zukunft gesehen. Er kennt Möglichkeiten, die andere nicht einmal erahnen. Doch er schweigt. Nicht aus Stolz, sondern aus Mitgefühl. Er weiß, dass manches Wissen eine Bürde ist, die eine Seele zerbrechen kann. Die Zeit zu kennen heißt nicht, sie zu kontrollieren. Chronar ist kein Herrscher über die Zeit – er ist ihr Diener. Ein Beobachter. Ein Wächter.

Er lebt zurückgezogen, in Bescheidenheit, fast unscheinbar. Die Welt nimmt ihn kaum wahr. Für die meisten ist er nur ein stiller, alter Mann am Meer, der täglich aufs Wasser blickt, als würde er mit ihm sprechen. Doch jene, die ihn erkennen, spüren es sofort: In seiner Gegenwart dehnt sich der Moment. Die Gedanken werden weit, Erinnerungen und Visionen mischen sich, und etwas in ihnen wird ganz still.

Chronar begegnet den anderen Meistern selten – und wenn, dann meist unerwartet, wie ein Flüstern im Strom der Zeit. Doch in besonderen Momenten, wenn Welten sich verschieben, wenn alte Ordnungen wanken oder etwas Großes bevorsteht, tritt er hervor. Dann bringt er keine Waffen, keine Macht – sondern ein einziges Wort, ein einziger Blick von ihm, genügt, um Entscheidungen zu verändern.

Seine Verbindung zur Quelle ist tief. Vielleicht war er einer der Ersten, der sie wahrnahm. Vielleicht auch einer der Letzten, der sie verstand. Sicher ist nur: Chronar hütet etwas, das jenseits aller Uhren liegt.

Er trägt die Zeit in sich wie andere das Herz – nicht als Last, sondern als Geschenk. Und manchmal, wenn der Wind sich dreht und das Meer für einen Moment still liegt, kann man ihn hören. Ein Flüstern im Jetzt, das sagt:

„Es ist Zeit.“